Pierrot
Rettung in letzter Minute – Oder, so kommt man zu einem Pferd.
"Da Vinci" ist ein Brauner Württemberger. Ja und was soll ich sagen, er wäre wohl inzwischen auf der immer grünen Pferdewiese, wenn nicht ... aber ich beginne die Geschichte von Anfang an.
Dort wurde er im Eckhof in den Eingewöhnungs-Paddock für die Laufstallpferde geführt. Er fällt mir sofort auf. Wow, der hat eine tolle Ausstrahlung. Schnell wird mir klar, Offenstallleben ist ihm fremd. Er tut sich sehr schwer in Mitten der anderen Jungs, denn natürlich muss er erst seinen Platz finden und seinen Rang klären. Seine damalige Besitzerin ist für ein ¾ Jahr nach Amerika gegangen. Und da stand er nun, alleine.
Wir hatten von Anfang an einen guten Draht zueinander. Er kam immer gerne um sich seine Streicheleinheiten abzuholen. Und wenn etwas passiert ist – Auge verletzt, Hufeisen halb runtergezogen...- dann hat er sich mir aufgedrängt, bis ich's verstanden habe. Wenn ich meinen Dülmener Kashmir gerufen habe, stand schon gleich Da Vinci mit dabei.
Markus, mein Mann, hat sich als Huforthopäde um die Hufpflege gekümmert. War nicht so einfach, denn der große Braune war sehr unsicher und wollte sich nicht führen lassen, außerdem war er extrem schreckhaft und hat sich bei jedem unerwarteten Geräusch losgerissen und ist in einem Satz ein paar Meter davon gesprungen. Dank der professionellen Arbeit meines Mannes haben sich seine Hufe gut erholt, ja er hatte richtig schöne Hufe bekommen und natürlich ein paar Krabbeleinheiten mehr und Zuwendungen erhalten, in der sonst einsamen Zeit.
Als die Besitzerin wieder da war, hat man standesgemäß leider auf seine inzwischen so schön regenerierten Hufe wieder Eisen draufgenagelt und Zehen mit dem Hackmesser gerade runter gekürzt. Zudem wurde er, nachdem er ein 3/4 Jahr 'stand', zu schnell stark belastet und nach kurzer Zeit schon wieder gesprungen.
Ergebnis: Sehnenprobleme ohne Ende. Die brauchen aber Zeit zum heilen. Die zu geben war die Besitzerin aber nicht bereit.
Die in der Eile für ihn gefundenen Interessenten wurden von ihr nicht akzeptiert. So wurde meinem Mann und mir die Pistole auf die Brust gesetzt. „Entweder ihr nehmt ihn oder ich fahre ihn morgen zum Metzger...“.
So haben wir uns notgedrungen in nur 10 Min. dazu entschlossen, ihn zu übernehmen. Wir haben es nicht übers Herz gebracht, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Nun mussten wir uns ein Bild über die Lage beschaffen. Und jeder vernünftig Denkende hätte jetzt STOP gerufen. Der eigentlich behandelnde Arzt wollte uns keine Auskunft geben.
Für eine genaue Diagnose haben wir dann einen Beinspezialisten kommen lassen. Sehnenruptur, eine verdickte tiefe Beugesehne mit Reizung des Fesselringbandes, ein Sehnenstelzfuß, den der Schmied flach geschnitten hatte und dessen Zehe deshalb schnabelte. Schmerzhaft. Damit sie nicht vorsteht hat man sie einfach gerade gekappt. Über die sofortige Verlagerung der Schwerpunkte auf den Hufen hat man nicht nachgedacht. Geschlossene Eiereisen, die ein prima Klima für alle lederhautaufzehrenden Bakterien der Welt geschaffen haben und die die Sohlenlederhaut bis unter das Hufbein aufgegessen hatten. Mahlzeit. Hufgeschwüre und geschwollene Gelenke sowie eine völlig verkrampfte Halsmuskulatur, die wiederum einen harten Rücken erzeugte, was sich in einer extrem unphysiologschen Hufform äußerte.
Die Eisen zu ziehen erforderte kraft und Kunstfertigkeit. Der spanische Schmied hatte ganze Arbeit geleistet. Die Öffnung der „Kammer des Schreckens“ hinterließ ein blasses Gesicht beim Huforthopäden. Alleine die Hufrevision dauerte fast zwei Jahre.
Da Vinci wurde kurz darauf an beiden vorderen Fesselringbändern operiert. Vielen Dank Dr. Beckmanns für die hervorragende Betreuung!
Da Vinci ist ein sehr menschenbezogenes Pferd, das aber auch sehr viel Vertrauen braucht und extrem unsicher und ängstlich war. Am Anfang wollte er sich kaum führen lassen, rückwärts gehen war seine Lieblingsgangart. Eine Runde um den Laufstall war ein Geduldsspiel. Die Hand in Richtung Kopf hat ihm Angst gemacht. Nur eine Decke aufzulegen erzeugte puren Stress. Durch die täglichen Bemer Behandlungen - die ich bei ihm durchgeführt habe- also Decke auflegen und angurten, hat Da Vinci gelernt, dass eine Decke auf dem Rücken nichts schlechtes bedeutet.
Ja, er hat sich nach einiger Zeit sogar schon in seine Wohlfühl-Position gestellt, wenn er die Bemer-Decke allein nur gesehen hatte. Positive Verknüpfung: er hat gelernt, dass diese Decke auf seinem Rücken ihm gut tut.
Das Abstreichen mit der Gerte beantwortete er mit dem Treten nach derselben.... Mit Geduld habe ich daran gearbeitet, Vertrauen aufzubauen. Durch Führübungen und T.TOUCHES habe ich eine gute Basis zwischen uns aufbauen können. In die Waschbox ist er dann schon nach kurzer Zeit mitgegangen und auch die Spaziergänge wurden immer zügiger und das Verladen in den Hänger war nach wenigen Einheiten ohne Stress durchzuführen. Die stundenlangen, verzweifelten Verlade-Versuche der Vorbesitzerin waren Vergangenheit. Ebenso wie die Züchtigungen in der Putzecke oder im Roundpen, wenn niemand zusah.
Nach der OP haben wir unsere Runden im Gelände gemacht. Wie man das eben kennt. Von 2 x 5 Minuten täglich gesteigert bis zu 3 Stunden spazieren gehen. Und mehrmals täglich mit der physikalischen Gefäßtherapie Bemer behandelt. Die Narben sind hervorragend verheilt, die operierten Vorderbeine machen inzwischen keine Probleme mehr.
Die Zeit in der Krankenbox habe ich genutzt, ihn wieder an die Trense zu gewöhnen. Natürlich ohne Sperrriemen und ohne Nasenriemen. Es ist so schön zu beobachten, wie die Pferde die 'Freiheit' ums Maul erkunden und genießen. Ich habe ihm dann die Biege-Abkau-Übungen gezeigt und die Zügelsignale neu erklärt. Und selbstverständlich nimmt er nun das Trensengebiss selbständig ins Maul.
Da Vincis Muskulatur war fest und komplett zu, Schritt war nur im Pass möglich. Wen wundert's. Denn nach dem ¾ Jahr Pause, wurde er ja nicht sinnvoll aufgebaut. „Auf Dressur hat er keinen Bock“ sagte die Vorbesitzerin. Das kann ich allerdings nicht bestätigen. Richtig erklärt und auf seine Problematik eingehend, ich kann nur sagen er ist absolut bei der Sache! So habe ich begonnen, über die Bodenarbeit und Longenarbeit im Schritt, die Muskulatur wieder in Bewegung zu bringen. Dann im Trab, oh da war er noch sehr unsauber gelaufen. Aber durch die Gymnastik an der Longe mit dem Kappzaum und durch T.TOUCHES habe ich ihm helfen können, bis er sauber gelaufen ist. Diese Arbeit kannte er vorher noch nicht, denn er wurde früher beim Longieren immer in das Trensengebiss ausgebunden! In dem für ihn so gruseligen Roundpen gab es so manche Ansätze zu Explosionen, jedes Geräusch erzeugte Panik. Und das mit den noch wenig belastbaren Beinen!! Es war eine Gratwanderung zwischen Anti-Scheu-Training, cool down, awareness, Vertrauen, Rangordnung und gymnastizieren. Umso schöner war es, seine positive Entwicklung zu beobachten. Da Vinci wurde immer entspannter und ruhiger, und die positiven körperlichen und seelischen Veränderungen haben alle Mühen vergessen lassen. Wie könnte es auch anders sein, wenn man jeden Tag wiehernd begrüßt wird. Dieses Pferd weiß genau, was er uns zu verdanken hat.
Und dann, kurz bevor ich mit der Galopparbeit beginnen wollte: dicke Beine... Oh je, was ist los. Unser Pferd hatte wieder Lebensenergie, ja das Spielen mit den Kumpels im Laufstall, das macht wieder großen Spaß. 'Oh Pferd!! Denk bitte an Deine Beine.....' Mit getapten Beinen haben wir dann mit der Galopparbeit begonnen. DANKE liebe Andrea für Deine tolle Hilfe und Unterstützung. Deine und Julia's Lymphdrainagen waren zudem Streicheleinheiten für Da Vincis Seele. Danke an Euch beide!
Die Vorbereitung zum Reiten. Natürlich habe ich das alles sorgsam vorbereitet. Ja auch das Aufsatteln kann man angenehm gestalten, gell DaVinci?! Das erste Mal aufsitzen, oh der Süße hat zunächst mit den Zähnen geklappert. Zuerst ein großes Sorgenauge... aber er hat verstanden, dass er keine Sorge haben muss! Reiten kann Spaß machen, ja, auch den Pferden.
Und dann ein
großer Rückschritt. Ich wollte ihn reiten und da spürte ich den Vulkan unter
mir. Er muss sich wohl auf der Koppel wieder einmal verrissen haben. Und das
muss wohl etwas wach gerüttelt haben. Denn selbst mit einem passenden Sattel
hatte er große Sorge sich in Bewegung zu setzen. Ich hatte das Gefühl, er
wusste nie, wann er losbuckeln würde, deshalb dieses extrem verhaltene
Verhalten. Ja und buckeln, das kann er!
Das Verletzen, Verreißen auf der Koppel war eine Spezialität von ihm. Nach 10 min. Koppelgang...Panik und Verletzungen. Erst im neuen Stall kann er den Koppelgang genießen, mit seinem Freund dem sanften Friesen-Riesen Aramis und der kleinen 'Kröte' Kashmir.
Nach unserem Stallwechsel entwickelt er sich großartig. Er ist unglaublich gelassen geworden. Veränderungen wirken manchmal Wunder. Und so wurde aus einem ängstlichen Da Vinci ein glücklicher Pierrot. Um mit der Vergangenheit endgültig abzuschließen, haben wir ihn umgetauft. Und er reagierte sehr schnell auf seinen neuen Namen.
Das Reiten hatte ich erstmal auf Eis gelegt, das ist ja auch nicht das wichtigste für uns. Das wichtigste ist es, dass es ihm psychisch, seelisch und physisch gut geht. Er läuft inzwischen so locker, schwungvoll und gelassen an der Longe, das hatte keiner jemals erwartet. Jetzt werden wir wieder mit dem Reiten sinnvoll beginnen können.
Er bekommt weiter die Hilfe die er braucht und viel Gymnastik an der Hand und an der Longe. Und so freuen wir uns über jeden noch so kleinen Fortschritt! Wir haben es keinen Tag bereut, dass wir Pierrot in unsere Familie aufgenommen haben. Auch wenn es einen unglaublichen Aufwand bedeutet. Mein Herz geht jeden Tag von Neuem auf wenn ich ihn sehe und wenn er mich brubbelnd begrüßt.